Church of Fear | September 2003 |
Theater / Kunstprojekt / Diskussionen | Frankfurt/Main |
Auftraggeber/Partner: | Schauspiel Frankfurt Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Royal Produktion Berlin |
Aufgabenbereich: | Unterstützung bei Konzeption, Organisation und Durchführung |
Church of Fear
Pfahlsitzwettbewerb "WIN WITH YOUR LOSER! "
Endzeitstimmung! Krise und Krieg, Krankheit und Kollaps! Ausnahmezustand! Kirchen und Gemeinden werden zu jeder Zeit durch Depression und Hoffnungslosigkeit, Produzenten der Angst, hervorgebracht. Dem Unglauben an die eigene oder kollektive Zukunft steht der Glaube an andere Seinsstufen gegenüber.
Auch unsere Zeit krankt! Krankheit und Frustration sind Phänomene unserer Endzeit. Nicht mehr ausschließlich vom niedergeschlagenen Ich ist die Rede, sondern ebenso von "kranken Börsen" und "ungesundem Arbeitsmarkt", von "Kriegsangst", "Volksdepression" usf. Am Vorabend des persönlichen oder globalen Untergangs entwickeln Menschen eine geradezu abgöttische Begeisterung für Kulte und Rituale, die Ängste bekämpfen, Hoffnung und Perspektive verheißen - die "Glauben machen". Glauben wird dort am effektivsten fabriziert, wo nichts dringlicher wäre als Zweifel: die Politik geißelt ihre Unglaubwürdigkeit in Lügenausschüssen; Klonsekten verkünden die automatisierte Unsterblichkeit; ein "Glaubenskrieg" steht bevor...
...Wer glaubt an Wen und Wer glaubt an Sich ? All diesen und anderen Fragen will sich die neu gegründete CHURCH of FEAR, vertreten durch das Kirchenmitglied Christoph Schlingensief im interaktiven Gedankenaustausch stellen. Sie will versuchen, Antworten zu finden, ohne Lösungen zu versprechen. Die CHURCH of FEAR ist keine hermetische Glaubensgemeinschaft im öffentlichen Raum - CHURCH of FEAR ist eine offene (und öffentliche) Gemeinschaft derer, die den Glauben suchen - den Glauben an sich selbst und an die Gemeinschaft der Gläubigen.
Am 5. September 2003 startet in Köln eine "Prozession der Angst" unter dem Titel "Der Schreitende Leib", die im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main endet. Dort findet am 13. und 14.9.03 "Das Abendmahl", der CHURCH of FEAR - Kirchentag statt. Vom 15. bis 20.9.03 veranstaltet die neu gegründete CHURCH of FEAR gemeinsam mit dem Schauspiel Frankfurt, und unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, die Aktion "WIN WITH YOUR LOSER!", den "Dritten internationalen Pfahlsitzwettbewerb" an der Frankfurter Hauptwache. Er schließt sich nahtlos an die Wettkämpfe in Venedig (Juni 2003) und Katmandu (August 2003) an, die unter größter Beteiligung veranstaltet wurden. Sieben Arbeitslose verschiedener Religionszugehörigkeit verbringen sieben Tage und Nächte auf einem zwei Meter hohen Pfahl. Unter dem Motte "WIN WITH YOUR LOSER!" können Zuschauer und Passanten auf ihren Favoriten setzen und machen damit sichtbar, wie Arbeitslosigkeit zum Konsumgut werden kann, wenn sie Unterhaltungswert erlangt.
Die verschiedenen
Aktionen der CHURCH of FEAR in Frankfurt werden um diskursive Elemente in
Form von Gesprächen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen ergänzt,
um die Inhalte in einen erweiterten Kontext zu setzen. Neben Vorträgen
von der Theologin Prof. Dr. Uta Ranke-Heinemann, der Kunsthistorikerin Dr.
Danièle Perrier und dem Autor Martin Büsser, findet ein von Volker
Panzer moderiertes Gespräch mit Christoph Schlingensief und dem Philosophen
und Medientheoretiker Prof. Dr. Boris Groys statt, das für das ZDF Nachtstudio
aufgezeichnet wird.
Die CHURCH of FEAR verlässt den Kunstraum und tritt ins Leben!
Weiterer Informationen unter: www.church-of-fear.net
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Pressestimmen
Berliner Morgenpost, 10. September 2003:
Schreitender Leib: Christoph Schlingensief wandert
Der Weg ist das Ziel. Regisseur Christoph Schlingensief wandert derzeit mit seiner "Church of Fear" von Köln nach Frankfurt. Mit der "Kirche der Angst" war Schlingensief auf der Biennale in Venedig vertreten. Für die Morgenpost führt der 43-Jährige ein Wandertagebuch.
Mit diplomatischen Worten begrüße ich als Kirchenmitglied die Besucher auf der Domplatte zu Köln, die sich vom ordnungsgemäßen Zustand unserer am 20. März gegründeten Church of Fear (COF) Deutschland überzeugen wollen. Punkt 13 Uhr steigen wir aus. Elf Mitglieder aus den Gemeinden Berlin, Hamburg, Münster und Karlsruhe. "Macht voran", brülle ich in die freundliche Runde und enthülle gemeinsam mit COF-Mitarbeitern, untermalt von den Korangesängen eines Muezzins, zwei Transparente, die zum einen die Internationale Gemeinschaft aller Terrorgeschädigten als Church of Fear, zum anderen die bevorstehende Mission ankündigen: die Prozession "Der schreitende Leib". "Es ist wie eine Erscheinung! Auf euch habe ich 81 Jahre gewartet!" ruft ein freundlicher älterer Herr, der problemlos als Gurnemanz durchgehen würde. Dustin, ein 17 Jahre alter Grönemeyerfan aus Bonn, nutzt die schulfreie Zeit, um "keinen Meter Angst" zu verpassen; Martina (38), Programmiererin an der Kunstakademie Düsseldorf, feiert Überstunden ab und will sehen, "wie weit Füße und Furcht mich tragen". Feierlicher Höhepunkt des Prozessionsbeginns ist dann die Segnung der Wandergesellschaft durch Pfarrer Leonhard aus der Gemeinde St. Antonius in Köln. "Selig sind die, die ihre Angst nicht scheuen. Ihnen gehört das Weltenreich." Ich ergänze mit den Worten: "Angst ist unser Sprengstoff, Wut ist unsere Lunte. Wir sind das Feuer! Kein Gott, kein Götze wird uns leiten! Wir sind der Weg! Volle Angst voraus!" Unter den Klängen eines ortsansässigen Gospelchores marschieren wir los und werden bereits in Wesseling von einer vom Katholizismus offenbar frustrierten Frauengruppe zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Der mittlerweile erblindete Wesselinger Orgelveteran Friedrich Hellbich begleitet das entspannte Aufeinandertreffen mit Beethovens "Adelaide", einem wundervollen Lied über tragische Liebe und ihr doch noch gutes Ende. In Bonn übernachten wir in der Jugendherberge "Bauernglück" - welch Idyll. Pubertierende Kinder sammeln erste Erfahrungen, mit Alkohol und Gras vom Italiener an der Ecke. Dieser Deutsche Herbst wird hart, da ist die richtige Vorbereitung fast alles. Abends dann Lagerfeuerromantik. Die Prozessionsteilnehmer blicken in die Flamme und tauschen Visionen aus. Dem "Schreitenden Leib" geht es um die Überprüfung der Systeme - und um die Überquerung des Rheins. An Petersberg und Drachenfels vorbei dringt die Wanderschar in deutsche Wälder ein. "Gelassenheit zu den Dingen und Offenheit für das Geheimnis", zitiert Carl Hegemann Heidegger, freut sich endlich Berlin verlassen zu können und mitzuwandern. Einen Tag, zwölf Stunden und keine Minute länger. Denn dann kommt Rheinland-Pfalz, ein gefährliches Pflaster. Hier hat der Staat noch alle Gewalt in den Händen. Nach Leibesvisitationen in der Neuwieder Fußgängerzone begleitet eine Polizeieskorte die Pilger bis an die Kante Deutschlands, ans Deutsche Eck Koblenz.
Heute dann Bad Ems, Wagner statt Wassertreten. Die reinste Erholung. Kurt Beck negiert jede Stellungnahme mit der Begründung, es sei Dienstag und er müsse sich auf das nächste Spiel des 1. FC Kaiserslautern vorbereiten. In diesem Jahr gehe es um den Abstieg, heißt es aus der Kanzlei. Ohne etwas zu sagen, hat man uns damit alles gesagt. So ist die Politik: Alles gehört irgendwie zusammen, weil nichts mehr zusammenpasst. Jetzt aber los! Die Wanderung geht weiter. Werden wir Parsifal finden? In Bad Ems ist er jedenfalls nicht mehr. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Berliner Morgenpost, 11. September 2003:
"Ich kann wieder laufen"
Christoph Schlingensief wandert mit seiner "Church of Fear" von Köln nach Frankfurt. Lesen Sie heute Teil 2 seines Tagebuchs.
Mein rechter Fuß schmerzt. Keine Blase zu sehen, aber irgendwas unter der Oberfläche. Um 10 Uhr formiert sich die Pilgerschaft zur Morgenandacht auf dem Bad Emser Kirchplatz. Aus einem Infobus der Rheinischen Zeitung heraus bieten zwei unterbeschäftigte Volontärinnen Orangensaft und belegte Brötchen an, morgendliche Wegzehrung für die anstehenden 23 Kilometer bis Limburg. Der Weihbischof hat ein Betreten der Domplatte strengstens untersagt. Auch die örtliche Polizei rät uns davon ab, die Stadt zu betreten.
Unbeirrt laufen wir los. Frau Perriere vom Balmoral-Kulturhaus winkt vom Balkon und ruft durch ihr Heimmegaphon zusammen mit neun Stipendiaten: "Wenn jeder von uns an sich selber denkt, dann ist an jeden gedacht. Nehmt euer Schicksal in die Hand. Verlasst die Stadt, geht in die Politik und bleibt 40 Jahre auf einem Bein stehen!" Ich schlage besinnliche Töne an, für die sich ein dankbares Publikum findet: arbeitsfreie Bankangestellte beim Brötchenkauf, schulbefreite Kinder, von Zukunft befreite Obdachlose . . . Heute haben sich 14 Pilger angeschlossen. Auch Christian (16) und Wadim (17) aus Balduinstein, aus dem Ort, in dem die spirituelle Wunderheilerin Mother Mira wohnt. Ich halte ihr meinen Fuß entgegen. Sie murmelt leise vor sich hin. Neben ihr 60 andere auf Heilung hoffende Menschen aus Australien, England und Pirmasens. "Ich kann wieder laufen!", rufe ich in den Raum und Pater Isidor aus Memmingen stützt mich, als wir aus dem Gebäude wanken. Ein großes Erlebnis! Langsam fließt wieder Blut in unsere Füße. Auf nach Limburg! CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Berliner Morgenpost, 12. September 2003:
Schlingensief: Im Felsenkeller bei Roland Koch
Christoph Schlingensief wandert mit seiner "Church of Fear" von Köln nach Frankfurt. Lesen Sie heute Teil 3 seines Tagebuchs.
Hoffentlich lande ich nicht im Rollstuhl. Mein Fuß hat sich drastisch verschlimmert. "Scheiß Wunderheiler", denke ich mir, als wir Limburg verlassen. An der Ampelkreuzung kollabiert der Verkehr. Ein alkoholisierter Schwarzafrikaner fordert uns auf, die "Negermusik" abzustellen. Insassen eines liegen gebliebenen Reisebusses auf Kaffeefahrt sind genervt und eröffnen die Diskussion. "Extremistenpack!" kreischt uns ein älterer Herr mit Gehstock entgegen und versucht, zwei Mitpilgerern das COF-Transparent aus der Hand zu reißen. Wir schreiten ein und erklären ihm, wie die Verkaufsmethoden für Nierenwärmer und Rentenversicherung zusammenhängen. Das leuchtet ihm ein. Am Ende wünscht er uns gute Wanderschaft und hat seinen Gehstock gegen ein COF-T-Shirt eingetauscht.
In Wörsdorf tobt ein unfreiwilliger Glaubenskrieg. Ein irakischer Mitarbeiter des örtlichen Gartenbauamts attackiert unsere Musikanlage und versucht, dem Muezzin das Mundwerk zu stopfen. Er kann sich kaum beruhigen und droht mit einer Anzeige wegen Missbrauchs religiöser Zeichen. "Das hat er auch mit Marilyn Manson und Helmut Kohl schon gemacht", flüstert mir sein Kollege zu.
Eine tolle Überraschung auf dem Marktplatz von Hussen. Dort hat die Dorfgemeinschaft "Freunde der Angst" einen Autoscooter organisiert und spendiert Freifahrten für alle. Wir erproben die direkte Kollision, mein Fuß wird gequetscht. Ich muss zum Arzt. Wenn alle Stricke reißen, dann fahre ich am Samstag im Rollstuhl ins Bockenheimer Depot, denke ich, und passiere mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stadtgrenze zum Hessentagsstädtchen Idstein. Wir übernachten im "Hotel Felsenkeller". Die Wirtin erzählt mir, dass in meiner Stube schon Roland Koch geweilt habe. Meine Frage, ob Drogen und Prostitution dabei eine Rolle gespielt hätten, beantwortet sie achselzuckend. Vorsichtshalber zünde ich Räucherstäbchen an.
Berliner Morgenpost, 13. September 2003:
Abrechnung im Krankenhaus
Regisseur Christoph Schlingensief wandert mit seiner "Church of Fear" von Köln nach Frankfurt. Lesen Sie heute Teil 4 des Tagebuchs.
Ich habe schlecht geschlafen. Im Traum traf ich Roland Koch, Bundeskanzler, der gerade die Bundeswehrmacht auf sich vereidigen ließ. Sofern wir ihm in Frankfurt begegnen, sollten wir diesem Albtraum ein Ende machen. Beim Prozessionsfrühstück in Idstein verkündet Klara (30), sie habe gestern Nacht ihre letzte Tüte geraucht. Binnen einer Wanderwoche sei sie sich ihrer Eigenverantwortung bewusst geworden. "Drogen sind nach innen gerichteter Terror, der keinem hilft. Die Kraft muss raus." Fabio aus Essen schnellt hoch und reißt mir dabei das Brötchen vom Teller: "Terror macht geil, weil Terror geil ist! Terror für alle!" Um acht Uhr morgens hält sich der Beifall noch in Grenzen. Die 44-köpfige Pilgerschaft ist besorgt. Mein Fuß ist so dick. Im St.Vincent Hospital Limburg diagnostiziert Oberarzt Kramm eine Knochenabsplitterung am Fußgelenk. Ein angeratenes Röntgen muss ich ablehnen, weil wir weiter müssen. Keine Zeit für Verschnaufpausen. Vielleicht fahre ich im Rollstuhl ins Bockenheimer Depot ein. Aber ankommen werden wir! Vielleicht finden wir noch einen Esel. Zwei COF-Mitglieder stützen mich, während Schwester Lena einen Rollstuhl organisiert. Im Foyer fängt uns ein sächselnder Krankenhauspfarrer ab, der einen Putsch von Gesundheitsreformern vermutet. Er beschimpft mich als Simulanten und schubst mich durch die Schiebetür ins Freie.
Auf der COF-Homepage sendet Niklas aus Idstein einen letzten Gruß, der Einsamkeit offenbart. Er hat am Abend zuvor mit uns getanzt, kann sich der Prozession zum Großen Feldberg aber nicht anschließen, da er am Morgen danach wieder beim Arbeitsamt vorsprechen muss. Wir sind in Gedanken bei ihm. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Berliner Morgenpost, 14. September 2003:
Letzte Folge: "Geschafft"
Schlingensiefs Tagebuch
Oberursel, zehn Uhr morgens. Ich nehme mir vor, mich zu schonen, aber eigentlich geht es mir wie Peymann. Ich lasse Volk und Vaterland nicht im Stich. Ausgerechnet heute habe ich Zugdienst und schleppe unseren Bollerwagen hinter mir her. Darauf steht der Lautsprecher, aus dem Koransuren surren. Das Davidoff-Gourmet-Festival sendet mir eine Einladung aufs Handy, als wir vor den Toren Frankfurts in einen US-Imbiss einkehren. "Esst kein Brot, esst Terror", rufe ich dem rotbemützten Araber hinterm Tresen zu. Um 15.30 Uhr betreten wir den Platz vor dem Bockenheimer Depot. Wir haben es geschafft! Nach einer Woche Prozession sind alle Organe des Schreitenden Leibs in Takt. Mit 400 Terrorgeschädigten hatte Elisabeth Schweeger, Intendantin des Schauspiel Frankfurt, gerechnet. Jetzt sind es weit über Tausend. Viele wollen sich einfach mal Luft machen, andere sich gleich in die Luft sprengen. So ähnlich lautet die Losung, um am Türsteher vorbei ins Innere des Depot of Fear zu gelangen. Hier beginnt um 17 Uhr das Casting der Pfahlsitzbewerber. Jürgen aus Rödelheim ist alles "scheißegal". Ob er eine Woche an der Hauptwache sitze oder unter dem Hauptbahnhof liege, das mache keinen Unterschied, "außer eben 2000 Piepen für den Gewinner". Ich bitte den nächsten der 72 Kandidaten an den Jurytisch. Am Klapptisch der Bundeszentrale für politische Bildung nimmt Rita die Simultanbekehrung von vier Zeugen Jehovas vor: "Sie haben einen Glauben, aber es ist nicht der richtige." Um 18.45 Uhr folgt der Höhepunkt des Tages. Eva Zander, Präsidentin der Church of Fear, fährt vor und hält eine Rede an die COF-Nation: "Wir begrüßen Sie recht herzlich und wünschen Ihnen toi, toi, toi bei all Ihren Terroranschlägen." Drinnen blättert Harald in der Parsifal-Partitur, projiziert auf Großbildleinwand. Am anderen Saalende sitzen drei hypnotisierte Neonazis und halten sich wie Kinder an den Händen. Frankfurt hat seine erste angstfreie Zone. Um zwei Uhr ins Bett. Morgen um diese Zeit stehen die sieben Pfahlsitzer fest. Am Montag um 12 Uhr geht es an der Hauptwache richtig los. Die Pfähle stehen schon, ich lege mich hin. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF
Berliner Zeitung, 13. September 2003:
Gib mir deine Angst, ich mach was Tolles draus
Christoph Schlingensief - eine deutsche Wegbeschreibung
Der Mann wandert gut. Seine Schritte greifen aus. Er geht
mit Elan. Zuweilen zieht er alleine für sich einen satten Kilometer vor
allen anderen her. Die fragen sich, wieso geht der da vorne eigentlich so schnell.
Woher nimmt er Tag für Tag diese Kraft. Kein bisschen anstrengend sieht
das bei ihm aus. So locker, wie seine Arme schlenkern. So oft, wie er dazwischen
mobile Telefonate annimmt. So gerne, wie er bei stetigem Wanderschritt über
Gott und die Welt redet.
Und dann wieder gibt es lange Momente, wie kurz vor der Ortschaft Wesseling
bei Köln, in denen der Mann einfach nur vor sich hin geht. Nichts sagt.
Ganz selbstverständlich schweigt, als hätte er nie etwas Anderes vorgehabt.
Denn Vorhaben hatte er immer. Auch diese Wanderung war lange geplant. Er gab
ihr den schönen Titel "Der schreitende Leib". Mit diesem Plakat,
das seine Crew ab und an ausrollt, geht Christoph Schlingensief zu Fuß
vom Dom zu Köln den Rhein entlang hinüber nach Frankfurt am Main,
wo er an diesem Wochenende zum "Internationalen Pfahlsitzen" einlädt.
Die Theaterplakate dafür hingen am Schauspielhaus schon im Sommer. "Church
of Fear" - viel mehr war nicht zu lesen. Denn es gibt keinen Text. Es gibt
keine Schauspieler. Aber Christoph Schlingensief kommt. Und die Karten sind
längst alle.
Als Pilger in eigener Sache also ist der Regisseur und Kunstaktivist in diesen
Tagen unterwegs und zelebriert seine Wanderschaft als Prozession der "Kirche
der Angst". Im Borkenheimer Depot von Frankfurt, wohin er seine Mitwanderer,
frühmorgens von Oberursel kommend, bis zum Sonnabendmittag geleitet. Die
modernen Pilger werden müde sein, heiser, durchgeschwitzt und glücklich
wie Marathonläufer, die das Ziel erreicht haben. Was dann kommt, weiß
keiner.
Laut homepage www.churchoffear werden die nächsten Säulenheiligen
gesucht. Freiwillige also, die ihre Angst demonstrieren, ihre Angst anerkennen
und sie gewissermaßen mittels Pfahlsitzen ausschwitzen, aufladen oder
abbauen oder einfach vergessen wollen. Halleluja.
Bei den Styliten, jenen Pfahlsitzern der Frühzeit, die der Legende nach
ganze Jahre auf ihren Stämmen verbrachten, verhieß das Ritual eine
besondere Nähe zu Gott. Bei Schlingensief heißt das Ritual eine besondere
Nähe zur Menge. Keine vorübergehende, absichtliche Flucht aus der
Gesellschaft. Modernes Pfahlsitzen ist eine Schlingensief-Idee, die er ganz
praktisch meint. Sitzen und meditieren. So wenig Hektik war nie.
Barbara, eine Fotografin aus Köln, war schon beim allerersten Mal dabei.
Sie besetzte bei der Kunst-Biennale in Venedig Pfahl Nummer drei. Sieben Tage
lang hat sie in Italiens Junisonne ausgehalten. Zu ihren Füßen eine
Prozession der Kunstenthusiasten. Sie sah auf die Welt aus einer ganz neuen
Sicht. Dabei hat sie sich ein bisschen mit sich selbst ausgesöhnt und hält
den Mann, der sich die Sitzerei einfallen ließ, seither für magisch.
"Endlich hat mir mal einer gesagt, dass ich Angst haben darf. Wir haben
doch alle Angst. Vor allem Möglichen." So wurde das Pfahlsitzen für
sie gewissermaßen zur Chance 2003 ohne Megafon.
Nur, was bitte ist denn bloß diese "Kirche der Angst"? Das fragte
sich schon vergangene Woche der Weihbischof von Limburg, als die Prozession
noch gar nicht da war. Sondern sich einfach nur artig bei ihm melden wollte,
wie in den anderen Pilgerorten auch. Der Kirchenmann geriet in die Nähe
einer Panik. Bitte? COF? Ist das etwa eine Sekte, ein New Age Verein, eine Ersatzreligion?!
Nein, Christoph Schlingensief ist noch immer Katholik. Nur eben kein braver.
Er hat sich mit anderen Angstbekennern getroffen und die "Kirche der Angst"
ausgerufen. Und los ging s.
"Insgesamt waren wir neun bei der Gründung. Jetzt sind wir schon sechshundert.
Und seither ." die Stimme wird ein klein wenig lauter, ". ist Church
of Fear eine Vereinigung von Leuten, die ihr Recht auf eigenen Terror artikulieren.
Wir wollen ganz einfach sagen: Wir sind für den persönlichen Terror!
Schluss damit, dass für uns den ein anderer macht. Wir drohen selber welchen
an. Bekenne dich zur Angst!" Mitten im Salbadern hält er inne und
stoppt, macht den Bruchteil einer Pause und fragt umgekehrt: "Kannst du
mir mal sagen, was du jetzt davon verstanden hast?"
Praktisch sah das dann so aus: Während er letzten Freitag die Kirche als
Sackgasse mit aller Macht seiner Stimme beschallte, auf dass man durch sie hindurchgehe,
damit nicht Schluss wäre am Tabernakel, verteilte er mit Inbrunst und Eifer
die liturgischen Blätter mit geplanter Wanderroute und Internet-Homepage.
Die Bevölkerung hörte sein "Wandern Sie mit!" Er debattierte
und diskutierte mit jedem. Er sprach mit Schülern, die ihre Augen tellergroß
aufrissen, weil sie so was noch nie live erleben durften. Er stellte sich mitten
rein in die Touristenhaufen, die den Herrn Schlingensief vom Fernsehen kannten,
und schwadronierte mit älteren Damen wie auf Kaffeefahrt. Er gratulierte
einem frisch vermählten Paar: "Herzlichen Glückwunsch - und habt
Angst!" und improvisierte kurzerhand einen Gospelchor ". when the
Saint s goes marching in ." Ein roter Herzchenballon mit Schrift LOVE flog
gen Himmel. Schöner Zufall.
Nun ist Schlingensief in diesen Momenten, für die er das absolute Gespür
einfach hat, am liebsten alles in einer Person: Regisseur und Texter und Hauptdarsteller
und Pressesprecher. Er ist auch Analyst und Therapeut, behandelt sich und seine
Umgebung frei nach dem Motto: Gib mir deine Angst, ich mach was Tolles draus.
Sonja, die Kamerafrau, kennt sein Medientalent: "Er weiß ganz intuitiv,
wie die Kamera gleich schwenkt, was Präsenz ist und wie er in ein Mikrofon
spricht." Manchmal überlässt er die Beleuchtung der Natur. Und
die Sonne strahlt ihn dafür wolkenfrei an.
Geht man die Schaffensliste durch, hat dieser Mann in seinen bisher 43 Jahren
schon einiges gemacht: Filme - beim ersten hielt der Onkel die Kamera und Christoph
trat auf als Lehrer - da war er im zarten Alter von neun. Seither setzt er alles
in Szene, was ihn in Rage bringt: Demagogischer Zwang, verlogenes Schweigen,
Staatsmacht, Elternaustreibung oder die Katastrophen der 68er. Deutsche Personen,
deutsche Paranoia, deutsche Politik. Sogar eine eigene Partei kam zu Stande.
Er nannte sie Chance2000. Das hielten die einen für einen genialen Witz.
Andere nahmen die ganze Sache biernst. Das Finanzamt übrigens auch.
Nach dem Fiasko, das unvermeidlich war, und mit einem riesigen privaten Schuldenberg
im Nacken wanderte Schlingensief damals durch die Berliner Knaackstraße
und übte Weitergehen, wo andere aufhören würden. Zu absurd, zu
pervers, einfach zu peinlich. Er wollte nur noch weg. Auf einer Festplatte verschwinden.
Oder nach Afrika. Bei Kreativen wie ihm führen solche Momente zu Ideen-Entladungen,
die kein Mensch im Leben realisieren kann.
Die Angst war so groß geworden, dass er gar keine mehr hatte. Symptome
wie Fluchtreflex, Herzrasen, Schwindel, Atemnot oder Hitzewallung überließ
er sowieso lieber dem Premierenpublikum in der Volksbühne oder den Teilnehmern
in seinen Spontan-Talkshows. Denn ob Freak-Show oder U3000 - Aussteigen gab
es für Schlingensief nicht.
Es verwundert also kaum, dass er entkräftete Assistenten erlebte und seine
Dramaturgen hohes Marschtempo aushalten müssen. Oder dass ihn eine Frau
unwiderruflich verlässt. Kurz darauf findet bei ihm das Rotz-und-Wasser-Heulen
natürlich nicht im Badezimmer statt, sondern ganz kollektiv. Schlingensief
berief eine Akademie der Liebeskranken an die Volksbühne ein, und die Massen
kamen.
Heiner Müller sagte einmal, für Erfolg muss man entweder genial sein
oder penetrant. Schlingensief hat von dem einen was und von dem anderen viel.
Und so läuft es. Im Grunde ist es für ihn nichts Besonderes, dass
er zu Fuß unterwegs ist und beim Unterwegssein gern arbeitet. Ende des
Sommers wanderte Schlingensief sieben Tage für die Kirche der Angst in
Nepal. Er hat sich mit buddhistischen Mönchen fotografieren lassen. Das
machen Stars gerne. Nachgedacht hat er auch, meditiert, gesungen und Wagner
gehört.
Wegen dieser Vorliebe zu Wagner werden mittlerweile halbe Bücher ad hoc
in die Computer gehackt, sobald der Mann sich in Bewegung setzt, nennt man das
Suche nach Parsival. Dann laufen die aktionistischen Videokameras am Meter.
Seine Dokumentenmappe wächst mit jedem Artikel. Der Mensch dahinter sieht
dieser permanent an ihm exerzierten Exegese zu, halb kopfschüttelnd und
halb fasziniert
Die Interpretation seines Weges bietet für ihn über einhundertfünfzig
Beschreibungen auf. Vom genialen Regietalent über den heiligen Narren,
vom zynischen Provokateur bis zum ignoranten Arschloch. Die Skala der Meinungen
ist in beide Richtungen offen.
Längst ist er, selbst wenn er unter freiem Himmel wandelt, selbst eine
Wegmarke der jüngsten deutschen Kulturgeschichte. Vielleicht wissen das
die Besitzer der Schuhläden nicht, die er unterwegs besuchte. Denn der
Mann kann aufs Schönste normal sein. Und auch deshalb zergrübeln sich
die klugen Köpfe Deutschlands das Hirn, wie so etwas geschehen konnte:
Dass ein Apothekersohn aus Oberhausens Kleinbürgermilieu erst zum Enfant
terrible der Theater- und Filmszene wurde und nun gerade dabei ist, eine der
symbolträchtigsten Mythologien der deutschen Kunstgeschichte neu auf die
Bühne zu stellen. Als Opernregisseur des "Parsifal" von Richard
Wagner.
Dorthin wurde er im Mai von Wagners Enkel selbst berufen. Seither erreichen
ihn ungefragt Telefonate, Ratschläge, Bücher, Angebote, Vorträge,
ganze Dissertationen zum Thema. Der Gral kippt über ihm aus. Und der Clan
konservativer Wagnerianer kreischt.
Ihn irritiert das Vorab-Geschreie nicht. Schreien könnte er selbst über
diesen ganzen Sub-Text, Meta-Text, Original-Text rund um den Parsifal. Sinnsucher-Geschichten
macht er schon immer. "Wenn man genau hinsieht, gibt es bei mir gar keine
Themensprünge. Nur Ortswechsel. Glauben und Nicht-Glauben. Kunst und Nichtkunst.
Macht und Machtmissbrauch. Und eben Angst. Aber gerade die Zustände, dieses
Zerrissensein zu überwinden, die suche ich ja. Bitte? . Warum?" Und
wieder wechselt die Stimme fast unmerklich vom Wanderer Christoph zu Herrn Schlingensief,
dem Gesamtkunstwerk. "Dieses Warum immer! Das ist ja der Grund, warum wir
hier alle nicht aus dem Pudding kommen."
Abends sind sie alle geschafft. Diese "Aufladung durch Erschöpfung"
- so würde ein Schlingensief-Claim dazu heißen, das verlangt er eben
nicht nur sich, sondern allen anderen auch ab. Der Hauptakteur allein hat noch
Luft: "Wie war die Frage: bin ich jetzt auf dem ,grünen Hügel
angekommen? Nee, glaube nicht. Das ist so surreal und gleichzeitig wirklich
im selben Moment, das ist ja das Verrückte und Zerrissene in jedem von
uns drin. Natürlich gibt es jetzt schon Leute, die lauthals erwarten, ich
würde nach Bayreuth gehen, die Musik anhalten oder das Orchester für
eine halbe Stunde nach Hause schicken. Kettensägen mitbringen. Oder die
Fenster ausheben, das ist ein Unfug. Ich habe großen Respekt vor dem Ort.
Ich mache mir auch keine Sorgen, dass ich die anderen nicht überrasche.
Eher hätte ich große Angst, dass ich mich selbst nicht mehr überraschen
könnte."
Auf seine unbändige Neugier auf die Aussicht hinter der nächsten Kurve
vertraute übrigens schon seine Mutter. Waren sie unterwegs, versprach sie:
"Hinter der nächsten Kurve geht es weiter." Und dann kam noch
eine und noch eine, und so weiter. So ist Schlingensief einmal ins Gehen gekommen.
"Und geht es nicht irgendwie eigentlich genau darum und letztendlich. Du
bist auf einem Weg und versuchst, dich dabei ab und zu selber zu treffen. Und
dich manchmal auch wieder richtig zu überraschen. Dabei kann das Schlimmste
passieren. Aber eben auch das Beste. Mal sehen." THEA HEROLD
F.A.Z., 14. September 2003:
Prozession, Abendmahl, Pfahlsitzen
Christof Schlingensief mit der "Church of Fear" in Frankfurt
Angst ist geil. Terror für alle. So steht es auf den Transparenten. Die "Church of Fear" ist in der Stadt. An der Hauptwache warten sieben Baumstämme mit überdachter Sitzgelegenheit auf Säulenheilige der Gegenwart. Die frühchristlichen Styliten sind das Vorbild. Arbeitslose waren aufgerufen, sich zu melden. Aber auch Hoffnungslose. Und überhaupt alle Losen. Ratlose. Obdachlose. Konfessionslose. Leute, die nichts zu verlieren haben. Nach Venedig und Kathmandu jetzt Frankfurt am Main: Der "dritte internationale Pfahlsitzwettbewerb" der "Kirche der Angst" kann mit blendendem Spätsommerwetter rechnen. Von heute an wird gesessen. Der Wettbewerb soll sechs Tage und fünf Nächte dauern. In den "Spielregeln" heißt es: "Sie müssen alle Tätigkeiten auf ihrem Pfahl verrichten." 24 Stunden lang. Immerhin ist innerhalb von drei Stunden jeweils eine Pause von 15 Minuten gestattet. Wer es am längsten aushält, bekommt, wie Kirchengründer Christof Schlingensief gestern mitteilte, nicht nur wie vorgesehen 2000, sondern dank eines Sponsors 3000 Euro. Man kann auch auf einen der sieben Pfahlsitzer wetten: "Win with your loser." Arbeitslose, heißt es, seien "Angebot ohne Nachfrage": "Deshalb: Zugreifen! Kaufen Sie Arbeitslose!" Gestern und am Samstag fand im Bockenheimer Depot ein "Casting" statt. Im größeren Zusammenhang eines heiteren Beisammenseins, das Kirchentags-Atmosphäre simulierte. Oder persiflierte. Nicht immer zur reinen Lust des gelegentlich unironisch intervenierenden Publikums. Potentielle Pfahlsitzer wurden auf ihre Tauglichkeit überprüft. Vor igendetwas Angst zu haben, gehört zu den Bedingungen des Wettbewerbs. Besonders viele Freiwillige fanden sich offenbar nicht. Und der eine oder andere zeigte sich beim Smalltalk im düsteren, mit künstlichem und echtem Kerzenlickt beflackerten Innenraum der zur Kirche, zum Tempel umfuktionierten Spielstätte der Städtischen Bühnen nicht gerade in bester psychischer Verfassung. Das Casting, so wurde überraschenderweise am Sonntagnachmittag verkündet, werde an der Hauptwache fortgesetzt. Der "schreitende Leib" setzte sich wieder in Bewegung. Er war in tagelangem Marsch von Köln nach Frankfurt unterwegs gewesen. Eine Prozession. Mit einem ausgestopften Esel, der an den Einzug nach Jerusalem erinnert. Inmitten einer kleinen Schar von Anhängern Schlingensief mit stolaartigem Schal. Hohepriester, Guru, Moderator und doch nichts von alledem. Der Mann ist Regisseur. Nur beschränkt er seine Inszenierungen nicht auf eine Bühne, sondern holt ins volle kulturelle und gesellschaftliche Leben aus. Auf kurz oder lang läßt sich die Faszination von Theaterleuten an den Ritualen und Symbolen der katholischen Kirche nicht unterdrücken. Schlingensief hat ihr nun freien Lauf gelassen. Auch wenn er sich bemüht, die "Church of Fear" als synkretistisches Gesamtkunstwerk mit stark buddhistisch-hinduistischem Einschlag zu päsentierten. Der Pilgerweg führt letztlich nach Bayreuth. Dort wird Schlingensief im kommenden Jahr Richard Wagners "Parsifal" inszenieren. Musik aus dem Spätwerk des Meisters war jetzt schon allenthalben im Depot zu hören. Und eine jener einst von Nietzsche despektierlich als "Bimbambaumeln" bezeichneten Stellen aus dem Bühnenweihfestspiel intonierten der Selbstdarsteller nebst "COF-Chor" im Depot mit grölender Leidenschaft. Vom Erlösungsmärchen "Parsifal" wie vom christlichen Erlösungsglauben scheint die "Church of Fear", weit enfernt. Habt Angst, fürchtet euch, ruft sie den modernen Ungläubigen zu. Aber da war auch dieser kleine Junge, den Schlingensief irgendwo auf dem Prozessionsweg mit ebendiesen Worten ansprach, woraufhin das Kind erwiderte: "Nö." Dieses "Nö", so der Regisseur im Depot, müsse unbedingt beibehalten werden. So widersprüchlich die Aussagen der "Kirche" sind, die mittels Formularen um Adepten wirbt und alle auffordert, Filialen überall in der Welt zu gründen, so unabwägbar sind die inszenatorischen Wege des Herrn. Des Herrn Schlingensief. Undurchbaubar, wo die Inszenierung aufhört und wo die Wirklichkeit beginnt, was noch Spiel ist und was schon bitterer Ernst. Das "Casting" - eine Farce? Das Essen freilich, das im Bockenheimer Depot zubereitet wurde, war real. Der Zeremonienmeister höchstselbst legte Hand an beim Schnippeln von Gemüse. Das Volk war zum "Abendmahl" geladen. Zwischen Opferkerzen und Altar, Filmleinwand mit Eindrücken aus Nepal und Beichtstuhl. Alles drängte sich auf engem Raum. Der Großteil der Depotfläche war nämlich verstellt. Ein gewaltiger Aufbau mit einer Art Bischofssitz, zu dem zwei Treppen führten, verhinderte das freie Umherwandeln. Von oben grüßte gelegentlich Bruder Schlingensief. An der Hauptwache ist schon ein Kirchlein aufgebaut mit einem Altar, auf dem unter anderem ein Hase an Aktionen von Joseph Beuys gemahnt. Auch eine Reliquienbox steht in der sakralen Hütte. Im Sägemehl drehen die Würmer ihre Runden. "Ich will heilig werden" lautet der Text auf einem der T-Shirts, die von der "COF" vertrieben werden. Schlingensief erneuert in großem Stil eine Kunstform aus den Sechzigern: das Happening. Und das hatte ja auch schon irgendwie, irgendwo, mit der Gesellschaft und ihrer Verfassung zu tun. MICHAEL HIERHOLZER
die tageszeitung, 16. September 2003:
Pay and Pray
Es gab Showeinlagen als Zugeständnis an die Erwartungen des Schauspiels Frankfurt, das als Veranstalter recht ordentliche Eintrittspreise verlangte - allerdings keine Show: Christoph Schlingensief gastierte mit seiner "Church of Fear" in Frankfurt
Schon einmal wurde das Bockenheimer Depot in Frankfurt,
damals noch das TAT unter der Leitung von Tom Kühnel und Robert Schuster,
zur Kirche: Auf kargen Holzbänken saß vor zwei Jahren die kleine
Gemeinde und schaute den Schauspielern beim Schuften zu, sogar Schuster stand
in seiner "Dogma"-Inszenierung nach Strindbergs "Vater"
da und schaufelte und schaufelte einen Erdberg um. Es war ein anstrengender
und fruchtloser Abend, mit sichtbarer Kraftanstrengung arbeitete man für
die künstlerische Erlösung, und doch gab es nur Jammertal und Scheitern
und Ernst. Puritanischer Protestantismus pur.
Auch Christoph Schlingensief hat bekanntlich ein Faible für Predigt und
Moral; ein Workoholic ist er ohnehin. Doch bei aller protestantischer Persönlichkeitsstruktur
überwiegt eine katholische Leidenschaft fürs Leben, für theatralen
Weihrauch, üppige Einfälle, kleinteilige Rituale und große Gesten.
Sie gehören zu seinen Performances, Inszenierungen und Projekten seit langem,
doch in der "Church of Fear", die nun ihren Altar kurzzeitig im Depot
aufgebaut hatte, sind sie ohne Verbrämung als religiös erkennbar:
Erstmals mit den viel besprochenen Pfahlsitzen bei der Biennale in Venedig sichtbar
geworden, war die "Church" inzwischen in Katmandu und pilgerte nun
auf Einladung des Schauspiels Frankfurt an den Main. Es ist - das wird nicht
nur durch die immer wieder eingespielte "Parzival"-Ouvertüre
deutlich - bereits der Beginn des langen Weges zur nächstjährigen
Eröffnungsinszenierung in Bayreuth, den Schlingensief gleichzeitig suchend
und konsequent beschreitet. Im Parzival hat Hamlet Schlingensief seine neue
Bestimmung gefunden.
Die "Church of Fear" vereinigt zahlreiche Themen aus seiner bisherigen
Arbeit - und entdeckt die Angst als eigentliche Motivation: Habt Angst! Fürchtet
euch! ist kirchliches Motto seit je und soll wohl vor allem dem Machterhalt
der Institution dienen, ist zugleich aber psychoanalytischer Therapieprozess:
sich den eigenen Ängsten stellen und sie selbst beherrschen. Vor allem
aber ist es bei Schlingensief eine politische Forderung: das Monopol der Angst
zu brechen, den religiösen und politischen Institutionen und Bewegungen
den Terror zu entreißen, um ihn zu demokratisieren. Indem Schlingensief
scheinbar absurd konsequent denkt, beginnt das Denken überhaupt: Mehr noch
als der Religion hat sich Schlingensief immer der Aufklärung verschrieben.
Manifest wird die "Church of Fear" in Frankfurt zuerst als kuscheliger
Kirchentag im Bockenheimer Depot, wo die Pilger eintreffen wie bei einer politischen
Kundgebung: mit Transparenten und einem rollenden Stoffesel im Schlepptau. Keine
eigentliche Show, sondern ein Beisammensein zelebriert Schlingensief, mehr Kirchenfreizeitleiter
als Schamane: gemeinsam Gemüseschnipseln, Kochen, Reden, da und dort eine
kleine Predigt, eine Beichte, ein paar Videos von anderen Religionen. Zwischendrin
wird gecastet: Sieben Freiwillige werden gesucht, "Arbeits-, Obdach- und/oder
Hoffnungslose", die sich "ihren Ängsten stellen wollen"
und sechs Tage auf Pfählen an der zentral gelegenen Hauptwache hocken werden
- nach Venedig und Katmandu das dritte Pfahlsitzen der "Church".
Showeinlagen (als Zugeständnis an die Veranstaltererwartungen), aber keine
Show. Auch hierin ist diese Kirche eine konsequente Weiterentwicklung von "Chance
2000", der Partei, die mit dem Motto "Wähle dich selbst"
zur Bundestagswahl 1998 antrat. "Habt Angst!" zielt in die gleiche
Richtung und müsste vielleicht genauer heißen: "Nehmt euch das
Recht, eure eigene Angst zu haben." Ähnlich wie "Chance 2000"
ist die "Church of Fear" ein soziales Projekt. Vor allem aber auch
eine Strukturperformance: Wenn "Church"-Mitglied Isidor aus Memmingen
verkündet, es brauche 10.000 Mitglieder, um als Religionsgemeinschaft anerkannt
zu werden und dann auch Kirchensteuer kassieren zu können, dann ist das
so wenig ironisch, wie es ironisch war, mit "Chance 2000" auf die
Wahlzettel zu kommen: als richtige Partei. In diesem Spiel mit Strukturen ragte
plötzlich die Kunst in die Politik und war nicht mehr von ihr zu unterscheiden
- dafür unterschied sich die Politik plötzlich von sich selbst.
Wie nah die beiden Projekte miteinander verwandt sind, zeigt schon die Wortwahl:
"Wählt CoF" steht auf einem Flugblatt. Und genauso wie damals
versammelt Schlingensief eine Schar von Helfern um sich, Kirchenmitglieder,
Laienprediger, Köche, Sänger, Pfahlhocker, alle nicht bezahlt, sondern
freiwilliger Teil einer Bewegung.
Da ist es mehr als nur ein schöner Nebeneffekt, dass sich solche soziale,
strukturelle Kunst schwer rastern lässt. Zwar unterminiert das Schauspiel
mit der mangelnden Sensibilität eines großen Apparates das Projekt
durch teure Eintrittskarten und Kontrolleure und schürt so falsche Erwartungshaltungen
- doch Schlingensief, der weiß, "dass ihr diesen Druck mitgebracht
habt, dass was passieren muss", interessiert sich nicht für diese
Erwartungen. Ohnehin ist er immer auf der Flucht vor den Erwartungen an Skandal,
Action, Unterhaltung, Provokation - als Hase aber bislang immer dem Igel Publikum
voraus. Und so bleibt auch die "Church of Fear", während die
sieben Pfahlhocker noch bis Samstag an der Frankfurter Hauptwache um die Wette
hocken, berechenbar nur darin, dass sie unberechenbar schwankt zwischen penibel
konkret und völlig diffus, auf schmalem Grat zwischen Fake und Wahrhaftigkeit,
Pathos und Chaos, Religion und Theater."FLORIAN MALZACHER
Frankfurter Rundschau, 18. September 2003:
Die Kirche lebt
Schlingensiefs "Church of Fear" an der Frankfurter Hauptwache: Besser haben soziale Plastiken nie funktioniert
"Wir haben euch mit unserem Horn zusammengeblasen. Wir sind mit Lärmen gekommen, weil ihr den leisen Rufen noch nicht folgt, weil ihr erst lebendig werden müsst... Seht, wir kommen nicht im Zeichen einer Partei, wir stehen nicht rechts noch links, sondern wir stehen mit beiden Füßen auf der Erde und tragen den Kopf in den Himmel." Es war in den Monaten nach dem 1. Weltkrieg, die Orientierungslosigkeit war groß. Während unklar war, wie die Geschichte weiter gehen würde, zogen merkwürdige Gruppen - Sekten, Laienspielscharen, Lebensreformer, wirre Vögel und klare Denker - durchs Land. Eine dieser Gruppen nannte sich "Neue Schar" und wurde geführt von einem charismatischen jungen Mann namens Muck Lamberty. Wie eine wiedertäuferische Gemeinde aus dem Mittelalter zog die "Neue Schar" von Dorf zu Dorf und sorgte für Aufregung, Diskussionsstoff, aber auch für ausgiebige Feiern. Der Legende nach sollen Lamberty Jugendliche nachgefolgt sein, wie dem Rattenfänger von Hameln.
Kriege, fertige und unfertige, gibt es auch heute genug, Orientierungslosigkeit sowieso. Und es gibt eine meist diffuse Sehnsucht nach Anhaltspunkten: Viele, gerade jüngere experimentelle Künstler, die jahrelang mit den Lehren von dezentriertem Subjekt und Repräsentationskrise die faule Selbstgewissheit des Kulturbetriebs erschüttert haben, prüfen nun, da sie vom Mainstream überaffirmiert wurden, behutsam was mit Narration, Linearität, Kausalität und Ethik noch anzufangen ist.
Einer aber geht gleich in die Vollen: Christoph Schlingensief, der leidenschaftliche Anti-Ironiker, schnüffelt nicht erst lang um Moral und Religion herum, er nimmt sich, was er brauchen kann. Nicht das Drumherum oder Nebenaspekte, sondern den Kern. Und der heißt: "Habt Angst! Fürchtet Euch" - als kirchliches Zentralmotto seit jeher vor allem auf Machterhalt gerichtet, aber auch psychotherapeutischer Therapieprozess: Sich den eigenen Ängsten stellen und sie beherrschen. Vor allem ist es für Schlingensief aber eine politische, gesellschaftliche Forderung: Das Monopol der Angst zu brechen, den religiösen und politischen Institutionen und Bewegungen den Terror zu entreißen, um ihn zu demokratisieren. "Habt Angst!" ist die radikale, konsequente und wesentlich tiefer gehende Form des Slogans "Wähle dich selbst" mit dem Schlingensiefs Partei "Chance 2000" vor fünf Jahren zur Bundestagswahl antrat. Von Köln aus ist Schlingensiefs neue Schar nun bis hin zum Frankfurter Bockenheimer Depot gewandert - zu einem kuscheligen, eigenen Kirchentag: Keine Show, sondern ein Beisammensein zelebrierte Schlingensief, mehr Kirchenfreizeitleiter als Schamane: gemeinsam Gemüseschnipseln, Kochen, Reden, da und dort eine kleine Predigt, eine öffentliche Beichte, ein paar Videos von anderen Religionen. Zwischendrin wurde gecastet, bis aus über dreißig Bewerbern sieben ausgesucht wurden: "Arbeits-, Obdach- und/oder Hoffnungslose", die sich "ihren Ängsten stellen wollen" und nun seit Montag früh bis kommenden Samstagnachmittag auf zweieinhalb Meter hohen Pfählen an der zentral gelegenen Hauptwache hocken - nach der Biennale in Venedig und einem Ausflug in Katmandu das dritte Pfahlsitzen der "Church".
Showeinlagen, aber keine Show: Während der erste Tag im Bockenheimer Depot vor allem von aufgestauten Erwartungshaltungen geprägt war, Zuschauer, Journalisten und nicht zuletzt das veranstaltende Schauspiel Frankfurt eine Sause erhofften, zeigt sich die eigentliche Substanz des Projektes da, wo es sich entspannt und verselbstständigt: An der Frankfurter Hauptwache lagert eine Gruppe Punks um "ihren" Pfahlsitzer, kommen Banker um zu spotten, Christen um sich zu streiten, Kulturszene um zu belächeln, Antifa um nach Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu fragen. Aber es kommen vor allem tatsächlich jene Außenseiter, von denen Schlingensief immer spricht und von denen sich in Frankfurt in dieser Ecke jede Menge tummeln. Kommen, reden, tragen vor, das Mikro steht jedem offen: "Durch Mitleid wissend", dieser Satz über Parsifal, den Schlingensief gerne zitiert, trifft - so pathetisch er auch sei.
So ist "Church of Fear" vor allem eine der bestfunktionierenden sozialen Plastiken, die je aus einem Kunstkontext heraus entstanden sind: "CoF"-Gemeinden haben sich in verschiedenen Städten gegründet - was sie dort tun, was sie unter "Angst" verstehen, das ist ihre Sache, von Schlingensief kommt keine Spielanleitung. Und nachts, wenn er gegangen ist, die Pfahlhocker aber unermüdlich hocken, diskutieren türkische Jugendliche mit kahlgeschorenen Punks. Etwas Abseits steht eine Frau meditierend vor einem der ausgehängten Texte, ein Betrunkener schimpft mit sich selbst und ein heimkehrendes Technokid lässt sich die ganze Aktion von grundauf erklären. Und manchmal ruft jemand die Polizei, die dann, nicht uninteressiert, das Treiben betrachtet.
Eine solche eigene Kraft hatte Muck Lambertys Bewegung nicht; letztlich war er ein armer Vogel, der über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen konnte - seine "Neue Schar" war schnell wieder eingegangen. Die "Church of Fear" würde Schlingensief irgendwann am liebsten in Form ihrer Reliquien mit einer Rakete ins All schicken. Oder, wahrscheinlicher, in seine Bayreuther Parsifal-Inszenierung münden lassen. Am schönsten aber wäre, wenn er ihr Ende gar nicht mehr bestimmen könnte, weil sie anderen gehört. FLORIAN MALZACHER
Frankfurter Rundschau, 1. August 2003:
Granatsplitter sehen aus wie Nussecken
Frankfurt hat einen Stadtgeist, der manchmal auf einem Pfahl sitzt und demnächst
Passanten zeigt, wo es lang geht
Aufrecht,
bodenständig, fest verwurzelt in hessischem Erdreich. Benehmen und Statur
lassen kaum Wunderlichkeit vermuten. Ein Mann wie ein Baumstamm. Kürzlich
hockte er in Venedig auf einem ebensolchen, volle sieben Tage lang, als Teil
einer Kunstaktion von Christoph Maria Schlingensief. Jetzt sitzt er wie zuvor
im Mercedes. Walter Panthen fährt Taxi.
Aber nicht nur. Der Baumhocker führt ein Doppelleben. Er bezeichnet sich als Frankfurts Stadtgeist. In diesem Aggregatzustand hebt er ab. Der Typ, der sich in seiner geisterhaften Existenz aus Liebe zum Pinguin Al Pino nennt, strebt zu Höherem. "Ich will den Leuten Fragen stellen", sagt er, "die das Leben verändern." Haltlosen Seelen möchte er den Weg zeigen zum verlorenen Ich. Dafür muss er den Benz schon mal stehen lassen und raus aus Frankfurt, Extremsituationen meistern. Dienen nicht letztlich nur Grenzerfahrungen am eigenen Leibe dem Verständnis für andere?
In Venedig wurde Al Pino als Sitzfigur auf der Kunstbiennale stadtbekannt und ging während des einwöchigen Baumarrestes in sich. Wenn ihn nicht gerade die Muse küsste: Dort oben konnte er ungestört sein Buch weiterschreiben: Anleitung zur Wirklichkeit, das im Herbst im Eigenverlag erscheinen soll.
Zielstrebig hatte Al Pino alles daran gesetzt, um unter den Kandidaten für die Pfahlsitzaktion zu sein. Im Mai war er nach Berlin zum Casting gereist. Einen teuflisch guten Eindruck zu machen beim Berlin Termin, das war das Ziel des ehemaligen Psychologiestudenten. Schlingensief suchte Protagonisten für seine Church of Fear (CoF), ein Performance-Projekt gegen Angst und Schrecken, die der Staat verbreitet. "Beim Casting", quietscht Al Pino, "habe ich mich als Schlachtviehnutte der Demokratie präsentiert und extra Granatsplitter beim Bäcker bestellt, das hat ihn wohl beeindruckt."
Aus Frankfurt hatte Al Pino "diese Dinger, die aussehen wie Nussecken" an die Spree geschleppt. Mehr als hundert Bewerber stach er aus. Im Juni ging es dann nach Venedig. Am Vorabend der Eröffnung der Wagner-Festspiele in Bayreuth, wo sich Schlingensief nun Wagners Parsifal vorknöpfen darf, wollte der Performer und Regisseur mit den Baumhockern Zeichen setzen auf der Weltkunstschau in der Lagune. "Ich bin hier die Klammer", strahlte Schlingensief, "ich zeige das erste und das letzte Bild."
Das letzte, ganz am Ende des Kunstparcours im Arsenale, war ein Kirchlein im Grünen. Schlingensiefs Church of Fear, auf nackten Nihilismus gebaut: "Wir glauben an nichts mehr." Das erste Bild war ein tableau vivant: Gleich am Eingang zum zentralen Ausstellungsgelände klebte Schlingensiefs handverlesene Siebenerbande von "Arbeits-, Obdach- und Konfessionslosen" nach dem Vorbild von Styliten auf Baumstümpfen.
Diesen Sommer will der Stadtgeist sein Sendungsbewusstsein ("Es drängt mich in die Öffentlichkeit") auf die Probe stellen und seine Fähigkeit zur Kommunikation auf der Frankfurter Zeil testen. "Die Menschen", meint er, müssten "lernen, die Dinge nicht länger zu verkomplizieren, sondern komplexe Zusammenhänge mantratechnisch zu vereinfachen." Al Pino möchte Passanten in Gespräche zu verwickeln, die sie weiterbringen. Vom Interview zum Overview lautet der Titel seiner geplanten Bohr-Aktion: "Das tiefe Eindringen in die Persönlichkeit mit ganz einfachen Fragen, um Kontakt entstehen zu lassen, das sehe ich als Kunstform an, als Stoffwechsel sozusagen."
Um seinen eigenen darf er sich Mitte September wieder Gedanken
machen. Die Church of Fear begibt sich dann auf eine Prozession von Köln
nach Frankfurt. Sieben Pfahlsitzer, unter ihnen erneut Al Pino, schwitzen diesmal
sieben Tage am Main, im Unterschied zu Italien jetzt rund um die Uhr und mit
Laptop-Anschluss.
DOROTHEE BAER-BOGENSCHÜTZ
Hamburger Abendblatt, Kultur/Medien, 16. September 2003:
Wer sitzt am längsten auf dem Pfahl?
Frankfurt/Main - Skandalregisseur Christoph Schlingensief erhitzt wieder die Gemüter. In der Innenstadt von Frankfurt am Main startete gestern seine neueste Aktion, der "Dritte Internationale Pfahlsitzwettbewerb". Sieben "arbeits-, obdach- und hoffnungslose Säulenheilige der Moderne" sind angetreten, bis zum Sonnabend auf zweieinhalb Meter hohen Pfählen auszuharren. Die fünf Männer und zwei Frauen demonstrieren damit nach eigenen Angaben für ihr "Recht auf persönlichen Terror". Dem Sieger des Wettstreits, der in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Schauspielhaus entstanden ist, winken die Aufnahme in die von Schlingensief mitbegründete "Kirche der Angst" ("Church of Fear") sowie ein Geldpreis in Höhe von 5000 Euro. Ein angeschlossenes Wettbüro der "Church of Fear" erlaubt es Zuschauern und Passanten, vor Ort oder im Internet auf den Teilnehmer zu setzen, der am längsten auf seinem Pfahl sitzen bleibt. Die Kandidaten waren in einem mehrtägigen Casting ausgewählt worden (www. churchoffear.net). ddp
Ostsee-Zeitungt, 17. September 2003:
Arbeitslosen-Projekt in der Stadt des Geldes
Frankfurt/Main (ddp) Er war Aufnahmeleiter bei der "Lindenstraße", Talkmaster bei RTL und Gastprofessor an der Uni. Er inszenierte das "Deutsche Kettensägenmassaker", gründete eine Partei und besetzte den Wolfgangsee. Ausgiebig nahm er sich Hitler, Jesus, Helmut Kohl und Jürgen W. Möllemann vor. Demnächst setzt er sogar den "Parsifal" in Bayreuth in Szene.
Vorher aber sorgt Christoph Schlingensief noch schnell in der Stadt des großen Geldes für Schlagzeilen. Seine neueste Provokation, der "Dritte Internationale Pfahlsitzwettbewerb" in Frankfurt am Main, nimmt sich - verglichen mit früheren Aktionen - harmlos aus.
Sieben "Musterbeispiele des sozialen Verfalls in Deutschland"
wurden in einem mehrtägigen, mit viel Tam-Tam inszenierten Casting ausgewählt,
um an der Hauptwache im Frankfurter Stadtzentrum bis zum Samstag auf zweieinhalb
Meter hohen Pfählen auszuharren. Sie alle wollen damit für
ihr "Recht auf persönlichen Terror" demonstrieren. Dem Sieger
winken ein Preisgeld von 5000 Euro und die Aufnahme in die von Schlingensief
mitbegründete "Kirche der Angst" ("Church of Fear",
Internet: www.churchoffear.net), die seit der Gründung vor einem halben
Jahr schon 600 "Christen, Islamisten und Satanisten" aller Länder
bekehrt hat.
Ihr Credo: "Habt Angst!"
Einer der sieben Kandidaten, die in Frankfurt um das beste Sitzfleisch wetteifern, ist Nina. Die 23-Jährige beschreibt sich als einen "richtigen Loser": "Ich bin nach Berlin gezogen, um zu studieren, habe aber keinen Studienplatz bekommen und lebe jetzt von Sozialhilfe." Ähnlich wie Nina geht es auch Harald, Hans-Jürgen, Björn, Susie, Hassan und Thomas. Sie alle sind "arbeits-, obdach- und hoffnungslos" und damit wie geschaffen für den Titel "Säulenheilige der Moderne", wie Schlingensief es nennt.
Der Austragungsort für den Wettstreit, der in Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus Frankfurt entstanden ist, könnte passender nicht sein. Zwischen den kapitalismuspredigenden Bankenhochhäusern, Kaufhof und McDonalds haben "Bruder Christoph" und seine Glaubensgenossen von der "Church of Fear" sieben Baumstümpfe aufgestellt. Auf einer kleinen Plattform an der Spitze: ein Stuhl mit einer Segeltuch-Überdachung. Dahinter Transparente mit Losungen wie "Angst ist geil" und "Arbeitslose sind faul". In einer aus rostigen Stahlplatten zusammengeflickten Kapelle ist ein Altar mit brennenden Kerzen aufgebaut, darüber das Motto "Terror für alle".
"Wir machen aus Verlierern ein marktwirtschaftliches Gut", erläutert Schlingensief das Konzept. In einem Wettbüro können Zuschauer vor Ort oder im Internet auf den Teilnehmer setzen, der am längsten auf seinem Pfahl sitzen bleibt. Wie immer bei solchen Tombolas gilt dabei: Je mehr Arbeits-Lose (Stückpreis ein Euro), desto größer die Gewinnchance. Zweifelnde Zeitgenossen werden mit dem Versprechen geködert: "Theologen, Politikwissenschaftler und Börsenmakler prognostizieren kurzfristige Wertexplosionen."
"Bis das Bier alle ist" - so lange will es Björn in luftiger Höhe aushalten. Als Zeitvertreib will er - neben Alkohol trinken - zwei englische Romanvorlagen einer befreundeten Autorin ins Deutsche übersetzen. Seinen Mitstreitern hat Punker Björn schon den Kampf angesagt: Auch nachts werde er seinen Verliererthron nicht verlassen.
Musterbeispiele des sozialen Verfalls
in Deutschland setzt Christoph
Schlingensief in
Frankfurt am Main in Szene.
Volksstimme, 14. September 2003:
Schlingensiefs Angst-Kirche beginnt Pfahlsitzwettbewerb
Frankfurt/Main
- Nach Aktionen bei der Kunstbiennale in Venedig und später in Nepal stellt
der Regisseur Christoph Schlingensief jetzt seine "Church Of Fear"
(Kirche der Angst) erstmals in Deutschland vor. Von Montag an können Passanten
in Frankfurts City über einen Pfahlsitzwettbewerb staunen. Sieben "Arbeits-,
Obdach- oder Hoffnungslose" sollen bis Samstag Tag und Nacht auf Baumstämmen
mit Sitz ausharren, um "ihre fremdbestimmten Ängste zu demonstrieren".
Am Wochenende gab es als Auftakt-Veranstaltung im Bockenheimer Depot ein "Abendmahl".
Nach einer neuntägigen Prozession von Köln nach Frankfurt kam Schlingensief
am Samstag mit seinem Team zu Fuß nach Bockenheim. Dort war das ehemalige
Straßenbahndepot in eine Art Tempel mit "Kirchentags-Atmosphäre"
umgewandelt worden. Es gab einen Altar, Weihrauch, viele Kerzen, kollektives
Kochen, eine Tafel für mehr als 40 Personen und Wagner-Musik, offenbar
bereits in Vorbereitung auf Schlingensiefs geplante Parsifal-Inszenierung in
Bayreuth 2004. Kern des Happenings war die Suche nach den sieben Teilnehmern
des Pfahlsitzwettbewerbs. Dabei war es schwierig, überhaupt genügend
Interessenten zu finden. Die Kandidaten wurden mit einem Fragebogen konfrontiert
und mussten ihre Motivation erläutern. Ein 38 Jahre alter Künstler
äußerte seine Angst vor Pleite und Obdachlosigkeit und eine 39 Jahre
alte freiberufliche EDV-Trainerin sprach von ihren Erfahrungen mit Ignoranz.
Schlingensief rief auch die Zuschauer zum Diskutieren über die eigenen
Ängste auf. Der Pfahlsitzwettbewerb unter dem Motto "Win with your
loser" (Gewinn mit deinem Verlierer) ist auch im Internet zu verfolgen.
Wer will, kann dort wetten, wer von den Teilnehmern am längsten sitzen
bleibt. Auch Passanten vor Ort können auf ihren Favoriten setzen. "So
kann den zum Wertlosen Degradierten viel Wertvolles abgewonnen werden",
erklärt die "Church of Fear". Dem geduldigsten Pfahlsitzer sind
2000 Euro versprochen. Die Aktion wird unterstützt von der Bundeszentrale
für politische Bildung und der Kulturstiftung des Bundes. Fortsetzungsaktionen
der "Church of Fear" sind in Wien, Zürich und in den USA geplant.
www.churchoffear.net (dpa)
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